Betreff:
sehr lesenswerter artikel von arundhati roy (faz)Datum:
Thu, 3 Apr 2003 14:07:25 +0200Der Krieg - eine Anleitung für gewöhnliche Menschen
Die Operation "Irakische Freiheit", Tag für Tag am Fernsehen verfolgt mit
den Augen einer Eingeborenen / Von Arundhati Roy
Mesopotamien. Babylon. Euphrat und Tigris. Wie viele Kinder in wie vielen
Schulen sind seit wie vielen Jahrhunderten auf den Flügeln dieser Wörter in die
Vergangenheit gesegelt! Und nun wird diese uralte Zivilisation bombardiert,
verbrannt, gedemütigt. Jugendliche amerikanische Soldaten malen in kindlicher
Schrift anschauliche Botschaften auf ihre Raketen: "For Saddam, from the Fat Boy
Posse." Ein Gebäude wird getroffen, ein Marktplatz, ein Wohnhaus. Ein Mädchen,
das einen Jungen liebt. Ein Kind, das nur mit den Murmeln seines älteren Bruders
spielen wollte.
Am 21. März, einen Tag nach Beginn des völkerrechtswidrigen Einmarschs
amerikanischer und britischer Soldaten in den Irak, interviewte ein
"eingebetteter" CNN-Journalist einen amerikanischen Soldaten. "Ich will da
rein und mitmischen", sagte der Gefreite AJ. "Ich will den 11. September
rächen." Dem Journalisten muß man zugute halten, daß er, obschon
"eingebettet", immerhin andeutete, daß eine Verbindung zwischen der
irakischen Regierung und den Anschlägen vom 11. September nicht nachgewiesen
worden sei. Der Gefreite AJ streckte die Teenagerzunge weit hinaus und sagte:
"Ah, das ist mir jetzt zu hoch."
Laut einer Umfrage von "New York Times" und CBS News sind 42 Prozent der
Amerikaner davon überzeugt, daß Saddam Hussein für die Anschläge auf World
Trade Center und Pentagon unmittelbar verantwortlich ist. Und laut einer
Umfrage von ABC News sind 55 Prozent der Amerikaner davon überzeugt, daß
Saddam Hussein Al Qaida direkt unterstützt. Wie viele amerikanische Soldaten an
diese Märchen glauben, kann man sich leicht ausmalen. Den britischen und
amerikanischen Truppen, die im Irak kämpfen, wird vermutlich nicht bewußt sein,
daß ihre Regierungen Saddam selbst während seiner schlimmsten Exzesse politisch
und finanziell unterstützt haben.
Aber warum sollte man den armen AJ und seine Kameraden mit derlei
Einzelheiten behelligen? Es bringt doch nichts mehr. Hunderttausende
Soldaten, Panzer, Schiffe, Hubschrauber, Bomben, Munition, Gasmasken,
proteinangereicherte Lebensmittel, Transportflugzeuge voller
Toilettenpapier, Insektenschutz, Vitaminpillen und Wasser sind in Bewegung. Die
phänomenale Logistik macht die Operation "Irakische Freiheit" zu einer eigenen
Welt. Sie muß sich nicht mehr rechtfertigen. Sie existiert.
Präsident George W. Bush, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte, hat
die eindeutige Anweisung gegeben: "Der Irak. Wird. Befreit." (Vielleicht meint
er, daß man, selbst wenn Iraker sterben, ihre Seelen befreien werde.) Amerikaner
und Briten schulden es ihrem Oberkommandierenden, nicht mehr nachzudenken,
sondern ihre Soldaten zu unterstützen. Ihre Länder führen Krieg. Und was für
einen Krieg.
Nachdem man den Irak mit freundlicher Hilfe der UN-Diplomatie
(Wirtschaftssanktionen, Waffeninspektionen) in die Knie gezwungen und
erreicht hatte, daß die Bevölkerung hungerte, eine halbe Million Kinder
gestorben und die Infrastruktur des Landes erheblich zerstört war, und
nachdem man - in einem Akt historisch beispielloser Feigheit - dafür gesorgt
hatte, daß die meisten Waffen zerstört waren, schickten die "Alliierten"/"Die
Koalition der Willigen" (besser bekannt als die Koalition der Genötigten und
Gekauften) eine Invasionsarmee ins Land. Operation "Irakische Freiheit"? Wohl
eher eine Operation nach dem Motto "Wir machen einen Wettlauf, aber vorher
breche ich dir die Knie".
Bislang hat es die irakische Armee, mit ihren hungrigen, schlecht
ausgerüsteten Soldaten, ihren alten Gewehren und Panzern, irgendwie
geschafft, die "Alliierten" zeitweilig zu verwirren und gelegentlich sogar
zu überlisten. Im Kampf gegen die reichsten, bestausgerüsteten, stärksten
Streitkräfte, die die Welt je gesehen hat, beweist der Irak spektakulären
Mut und leistet sogar Widerstand. Den Bush & Blair sofort als "hinterlistig" und
"feige" bezeichnet haben. (Bei uns Eingeborenen hat List jedoch eine lange
Tradition. Wenn wir überfallen/kolonisiert/besetzt und unserer Würde beraubt
werden, greifen wir auf Tricks und Opportunismus zurück.) Selbst wenn man
berücksichtigt, daß der Irak und die "Alliierten" Krieg führen - die Sprache der
Alliierten und ihrer Medienkohorten ist bemerkenswert, fast schon
kontraproduktiv.
Als Saddam Hussein nach dem Scheitern des aufwendigsten Attentatversuchs in der
Geschichte im Fernsehen erschien, um zur irakischen Bevölkerung zu sprechen,
bezeichnete der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon ihn als Feigling, der
sich lieber verstecke, als mutig aufzustehen und sich töten zu lassen. Dann
setzte auf seiten der Koalition eine Flut von Spekulationen ein - war es
wirklich Saddam oder doch sein Double? Vielleicht Usama Bin Ladin, der sich den
Bart abgenommen hatte? War es aufgezeichnet? War es Schwarze Magie? Wird er sich
in einen Schwächling verwandeln, wenn wir es nur genug wollen?
Nachdem nicht Tausende von Bomben auf Bagdad gefallen und irrtümlich ein
Marktplatz getroffen und Zivilisten ums Leben gekommen waren, gab ein
Sprecher der amerikanischen Armee zu verstehen, daß die Iraker sich selbst
in die Luft sprengen. "Sie verwenden uraltes Gerät. Ihre Raketen gehen hoch und
fallen wieder runter." Da wüßte man doch gern, wie sich das mit der
Anschuldigung verträgt, das irakische Regime gehöre zur Achse des Bösen und sei
eine Gefahr für den Weltfrieden.
Wenn der arabische Fernsehsender Al Dschazira zivile Opfer zeigt, wird das
als "emotionale" arabische Propaganda kritisiert, die eine feindselige
Stimmung gegenüber den "Alliierten" schüren soll - so als stürben Iraker
nur, damit die "Alliierten" schlecht dastehen. Dagegen werden die
ehrfurchterregenden, atemberaubenden Bilder von Flugzeugträgern,
Tarnkappenbombern und Marschflugkörpern, die in den Wüstenhimmel
amerikanischer und britischer Fernsehsender aufsteigen, als "furchtbare
Schönheit" des Krieges bezeichnet.
Wenn gefangengenommene amerikanische Invasionssoldaten (der Armee, die "nur
gekommen ist, zu helfen") im irakischen Fernsehen vorgeführt werden, ist das für
George W. Bush ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, in dem sich der böse
Kern des Regimes zeige. Aber es ist völlig normal, wenn amerikanische
Fernsehsender Gefangene zeigen, die auf dem Stützpunkt Guantanamo gehalten
werden, auf der Erde kniend, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Augen
verbunden und die Ohren zugestopft. Werden Vertreter der amerikanischen
Regierung darauf angesprochen, bestreiten sie keineswegs, daß diese Leute
schlecht behandelt werden. Aber sie bestreiten, daß es sich um "Kriegsgefangene"
handelt. Sie bezeichnen sie als "irreguläre Kombattanten", was heißen soll, daß
ihre schlechte Behandlung legitim ist. (Wie sieht eigentlich die offizielle
Sprachregelung in bezug auf das Massaker an den Gefangenen in Mazar-i-Sharif
aus? Vergeben und Vergessen?)
Als die "Alliierten" den irakischen Fernsehsender bombardierten (auch das
übrigens ein Verstoß gegen die Genfer Konvention), erhob sich vulgärer Jubel in
den amerikanischen Medien. Fox TV hatte diesen Angriff schon eine ganze Weile
gefordert. Er wurde als legitimer Schlag gegen die arabische Propaganda
angesehen. Die meisten amerikanischen und britischen Fernsehsender bezeichnen
ihre Berichterstattung als "ausgewogen", obwohl ihre Propaganda
halluzinatorisches Niveau erreicht hat.
"Eingebettete" westliche Journalisten gelten als heldenhafte
Frontberichterstatter. Nicht "eingebettete" Journalisten (wie
BBC-Korrespondent Rageh Omaar, der aus Bagdad berichtet, sichtlich betroffen vom
Anblick toter Kinder und Verwundeter) müssen sich vor ihren Reportagen die
Einschränkung gefallen lassen: "Wir weisen darauf hin, daß unser Korrespondent
von den irakischen Behörden überwacht wird."
Immer öfter werden irakische Soldaten im britischen und amerikanischen
Fernsehen als "Milizen" (das heißt Pöbel) bezeichnet. Ein BBC-Reporter
sprach ominös von "Quasi-Terroristen". Die irakische Verteidigung ist
"Widerstand" oder, noch schlimmer, "vereinzelter Widerstand", die Strategie der
irakischen Militärführung ist Hinterlist. (Wenn die amerikanische Regierung, wie
vom "Observer" berichtet, die Telefone der Mitglieder des Sicherheitsrats
anzapft, ist das Pragmatismus.) Aus Sicht der Alliierten gibt es für die
irakische Armee nur eine einzige moralisch akzeptable Strategie: hinaus in die
offene Wüste marschieren und von den Bomben der B-52 getroffen oder von
Maschinengewehrfeuer niedergemäht werden. Alles andere ist Hinterlist.
Nun die Belagerung von Basra. Etwa anderthalb Millionen Menschen, vierzig
Prozent davon Kinder. Kein sauberes Wasser, wenig Lebensmittel. Wir warten
noch immer auf den "Aufstand" der Schiiten, darauf, daß Menschenmassen die
Armee der "Befreier" mit Hosianna-Rufen begrüßen. Wo sind die Massen? Wissen sie
nicht, daß die Fernsehredaktionen strenge Termine einhalten müssen? (Wenn das
Regime Saddam Husseins fällt, könnte es durchaus sein, daß in den Straßen von
Basra getanzt wird. Sollte das Regime Bushs fallen, würde freilich auf der
ganzen Welt getanzt.)
Nachdem die Alliierten die Bevölkerung Basras tagelang zu Hunger und Durst
verurteilt haben, wird beschlossen, Lebensmittel heranzuschaffen. Ein paar
Lastwagen parken verlockend am Stadtrand. Verzweifelte Menschen drängen sich um
die Fahrzeuge, um etwas zu ergattern. (Das Wasser, so ist zu hören, wird
verkauft. Um die schwächelnde Wirtschaft zu beleben, verstehen Sie.) Auf den
Lastwagen rangeln verzweifelte Fotografen miteinander, um Bilder von
verzweifelten Menschen zu machen, die um Lebensmittel kämpfen. Die Aufnahmen
gehen über Bildagenturen an Zeitungen und Hochglanzmagazine, die gut dafür
bezahlen. Die Botschaft: Die Messiasse sind gekommen und verteilen Gaben.
Im Juli letzten Jahres wurden Hilfslieferungen an den Irak im Wert von 5,4
Milliarden Dollar von Bush & Blair blockiert. In den Nachrichten wurde nicht
groß darüber berichtet. Doch nun trafen auf der "Sir Galahad", von
Fernsehreportern aufmerksamst begleitet, 450 Tonnen Hilfsgüter ein - ein
Bruchteil des tatsächlichen Bedarfs, eine Film-Requisite, könnte man sagen.
Einen ganzen Tag lang berichtete das Fernsehen über die Ankunft des britischen
Schiffs in Umm Qasr. Spucktüte gefällig?
Nick Guttmann, Direktor von Emergencies for Christian Aid, schrieb im
"Independent on Sunday", daß 32 Sir Galahads pro Tag notwendig wären, um auf das
Niveau der Nahrungsmittellieferungen zu kommen, die der Irak vor Kriegsbeginn
erhielt.
Doch wir sollten nicht überrascht sein. Es handelt sich um eine alte Taktik.
Nehmen Sie nur diesen bescheidenen Vorschlag von John McNaughton aus den
Pentagon Papers, der während des Vietnam-Kriegs gemacht wurde: "Angriffe auf
bewohnte Ziele werden nicht nur eine kontraproduktive Welle der Empörung im In-
und Ausland auslösen, sondern das Risiko, daß China oder die Sowjetunion in den
Krieg eingreifen, erheblich verstärken. Die Zerstörung von Dämmen und Schleusen
könnte dagegen, sofern richtig ausgeführt, . . . erfolgversprechend sein. Bei
solchen Zerstörungen werden keine Menschen getötet. Wenn die Reisfelder unter
Wasser gesetzt sind, führt das mit der Zeit zu großer Hungersnot, sofern keine
Lebensmittel geliefert werden - was wir ,am Konferenztisch' anbieten könnten."
Seitdem hat sich nicht viel geändert. Aus der Technik ist eine Doktrin
geworden. Sie heißt "Die Menschen gewinnen". Und das sind die Zahlen:
Schätzungsweise zweihunderttausend Iraker sollen im ersten Golfkrieg getötet
worden sein. Hunderttausende Tote wegen der Wirtschaftssanktionen. (Ihnen
zumindest blieb Saddam Hussein erspart.) Jeden Tag kommen weitere hinzu.
Zehntausende amerikanische Soldaten, die im Golfkrieg gekämpft haben, gelten
aufgrund des Golfkriegsyndroms (einer Krankheit, die teilweise durch Berührung
mit abgereichertem Uran ausgelöst wurde) offiziell als "kriegsversehrt". Die
Alliierten hält das nicht davon ab, auch weiterhin abgereichertes Uran zu
verwenden.
Und nun wird wieder von der Aufgabe der United Nations gesprochen. Doch es
zeigt sich, daß das alte Mädchen UN nicht mehr das ist, was sie einmal war. Sie
ist degradiert worden (bezieht aber weiterhin ein üppiges Gehalt). Jetzt ist sie
der Hausmeister der Welt. Sie ist die philippinische Putzfrau, die indische
Jamadarni, die thailändische Katalogbraut, die mexikanische Haushaltshilfe, das
jamaikanische Au-pair-Mädchen. Ihre Aufgabe ist es, anderer Leute Müll zu
beseitigen. Sie wird nach Belieben benutzt und mißbraucht.
Trotz Tony Blairs ernster Ergebenheitsadressen hat George W. Bush
klargestellt, daß die Vereinten Nationen keine eigenständige Rolle in der
Verwaltung eines Nachkriegs-Irak spielen werden. Amerika wird entscheiden,
wer die lukrativen Wiederaufbau-Verträge bekommt. Bush hat an die
internationale Gemeinschaft appelliert, das Thema humanitäre Hilfe nicht zu
"politisieren". Am 28. März, nachdem der amerikanische Präsident zur sofortigen
Wiederaufnahme des UN-Programms "Öl für Lebensmittel" aufgerufen hatte, stimmte
der Sicherheitsrat geschlossen für die Resolution. Es sind also alle der
Meinung, daß irakisches Geld (aus dem Verkauf von Öl) zur Ernährung der
irakischen Bevölkerung verwendet werden sollte, die wegen der Sanktionen und
wegen des völkerrechtswidrigen Krieges Hunger leidet.
Verträge für den "Wiederaufbau" des Irak könnten der Weltwirtschaft wichtige
Impulse geben. Merkwürdig, daß die Interessen von amerikanischen Konzernen so
oft, so erfolgreich und so bewußt mit den Interessen der Weltwirtschaft
verwechselt werden. Während letztlich das amerikanische Volk die Rechnung für
den Krieg bezahlen muß, werden die Ölgesellschaften, die Rüstungsproduzenten,
die Waffenhändler und die am Wiederaufbau beteiligten Firmen unmittelbar vom
Krieg profitieren. Viele von ihnen sind alte Bekannte der
Bush/Cheney/Rice-Clique. Bush hat den Kongreß bereits um 75 Milliarden Dollar
ersucht. Über Verträge für den Wiederaufbau wird schon verhandelt. In den
Nachrichten erfährt man davon nichts, weil die meisten amerikanischen Medien
ebenjenen Konzernen gehören.
Bei der Operation "Irakische Freiheit", versichert uns Blair, gehe es darum, das
irakische Öl dem irakischen Volk zurückzugeben. Will sagen: auf dem Umweg über
multinationale Konzerne wie Shell, Chevron, Halliburton. Oder haben wir da etwas
falsch verstanden? Ist Halliburton vielleicht ein irakisches Unternehmen? Ist
Vizepräsident Dick Cheney (früher Chef von Halliburton) vielleicht heimlich ein
Iraker?
Der Riß zwischen Europa und Amerika wird immer tiefer, und einiges deutet
darauf hin, daß die Welt vor einer neuen Ära von Wirtschaftsboykottmaßnahmen
steht. CNN berichtete, wie Amerikaner französischen Wein auf die Straße kippten
und dazu riefen: "Wir wollen euer Gesöff nicht!" Auch deutsche Waren sollen in
Amerika wohl bald boykottiert werden. Am meisten werden allerdings die
Amerikaner selbst unter den Folgen des Krieges zu leiden haben. Ihr Land können
sie mit Grenzpatrouillen und Atomwaffen schützen, aber ihre Wirtschaft erstreckt
sich über den ganzen Globus. Die ökonomischen Vorposten sind ungeschützt und in
jeder Hinsicht angreifbar. Schon gibt es im Internet detaillierte Listen
amerikanischer und britischer Produkte und Unternehmen, die boykottiert werden
sollen. Abgesehen von den üblichen Zielen - Coke, Pepsi und McDonald's -,
könnten sich auch staatliche Agenturen wie der amerikanische und britische
Entwicklungsdienst, britische und amerikanische Banken, Arthur Andersen, Merrill
Lynch, American Express, Unternehmen wie Bechtel, General Electric und Firmen
wie Reebok, Nike und Gap belagert sehen. Diese Listen werden von Aktivisten auf
der ganzen Welt immer weiter vervollständigt. Sie könnten ein praktischer Führer
sein, mit dessen Hilfe die amorphe, aber wachsende Empörung der Welt kanalisiert
und dirigiert wird. Plötzlich scheint die "Unvermeidlichkeit" der Globalisierung
doch mehr als nur ein wenig vermeidbar.
Es hat sich gezeigt, daß es bei dem Krieg gegen den Terrorismus in Wahrheit
nicht um den Terrorismus geht und bei dem Krieg gegen den Irak nicht nur um Öl.
Es geht um das selbstzerstörerische Streben einer Supermacht nach Dominanz, nach
uneingeschränkter Macht, nach globaler Hegemonie. Manche sagen, daß Argentinier
und Iraker Opfer des gleichen Prozesses seien. Nur die eingesetzten Waffen
unterschieden sich - in dem einen Fall das Scheckbuch des Internationalen
Währungsfonds, im anderen Fall Marschflugkörper.
Ach ja, und dann müssen wir noch über die Massenvernichtungswaffen von
Saddam Hussein reden. In den Kriegswirren ist eines klar - wenn Saddam
Hussein tatsächlich Massenvernichtungswaffen besitzt, reagiert er angesichts
äußerster Provokation erstaunlich verantwortungsbewußt. Wäre unter ähnlichen
Bedingungen (sagen wir, irakische Truppen bombardieren New York und belagern
Washington) ähnliches von George W. Bush zu erwarten? Würde er Tausende atomarer
Sprengköpfe in ihrer Verpackung lassen? Und die chemischen und biologischen
Waffen? Nun?
Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt lache.
In den Kriegswirren müssen wir spekulieren: Saddam Hussein ist entweder ein
äußerst verantwortungsbewußter Tyrann. Oder hat einfach keine
Massenvernichtungswaffen. Ganz gleich, was in der nächsten Zeit passiert, am
Ende dieser Auseinandersetzung wird der Irak angenehmer riechen als die
amerikanische Regierung.
Der Irak - Schurkenstaat, ernste Bedrohung für den Weltfrieden, Teil der
Achse des Bösen. Überfallen, bombardiert, belagert, genötigt, gedemütigt,
die krebskranken Kinder chancenlos, die Menschen auf der Straße zerfetzt.
Und wir schauen zu, bis spät in die Nacht. Wir ertragen das Grauen des
Krieges, das Grauen der Propaganda und den Mord an einer Sprache, die wir
kennen und verstehen. Freiheit heißt jetzt Massenmord. Wenn jemand
"humanitäre Hilfe" sagt, halten wir automatisch Ausschau nach
herbeigeführtem Hunger.
Fast überall auf der Welt wird der Irak-Krieg als rassistischer Konflikt
angesehen. Die wahre Gefahr eines rassistischen Krieges, der von
rassistischen Regimes entfesselt wird, besteht darin, daß er alle zu
Rassisten macht - Täter, Opfer, Zuschauer. Dieser Rassismus prägt die
Debatte, er legt das Fundament für eine bestimmte Sichtweise. Aus dem alten
Herzen der Welt schlägt den Vereinigten Staaten eine Flut des Hasses entgegen.
In Afrika, Lateinamerika, Asien, Europa, Australien begegnet er mir tagtäglich.
Manchmal kommt er aus den erstaunlichsten Ecken. Banker, Geschäftsleute,
Yuppie-Studenten mit ihren plumpen, konservativen, unliberalen Standpunkten.
Diese absurde Unfähigkeit, zwischen Regierung und Bevölkerung zu unterscheiden.
Amerika, sagen sie, ist eine Nation von Trotteln, von Mördern. (Ebenso
unbekümmert sagen sie: "Alle Muslime sind Terroristen.") Und plötzlich stelle
ich fest - ausgerechnet ich, der man "Antiamerikanismus" und eine
"antiwestliche" Haltung vorwirft -, daß ich mich in der ungewöhnlichen Situation
befinde, die Amerikaner zu verteidigen. Und die Briten.
Diejenigen, die so schnell in den Abgrund rassistischer Verunglimpfung
hinabsteigen, sollten sich an die Hunderttausende Amerikaner und Briten
erinnern, die gegen das Atomwaffenarsenal in ihren Ländern protestierten. An die
Tausende amerikanischer Kriegsdienstverweigerer, die ihre Regierung zum Rückzug
aus Vietnam zwangen. Sie sollten wissen, daß die differenzierteste, schärfste,
unbändigste Kritik an der amerikanischen Regierung und dem amerikanischen way of
life von Amerikanern selbst geübt wird. Und daß die bittersten Urteile über
Blair von den britischen Medien kommen. Und schließlich sollte man sich daran
erinnern, daß gerade jetzt Hunderttausende Briten und Amerikaner gegen den Krieg
demonstrieren. Die Koalition der Genötigten und Gekauften besteht aus
Regierungen, nicht aus Völkern.
Während die Alliierten in der Wüste auf einen Aufstand der Schiiten in Basra
warten, findet der wahre Aufstand in Hunderten von Städten auf der ganzen Welt
statt. Es ist die bislang spektakulärste Demonstration öffentlichen
Moralbewußtseins. Tatsächlich gibt es nur eine Institution, die mächtiger ist
als die amerikanische Regierung - die amerikanische Öffentlichkeit. Die
Amerikaner tragen eine große Verantwortung. Wie können wir diejenigen nicht
ehren und unterstützen, die diese Verantwortung nicht nur akzeptieren, sondern
auch demgemäß handeln? Sie sind unsere Verbündeten, unsere Freunde.
Abschließend bleibt mir nur noch die Feststellung, daß Diktatoren wie Saddam
Hussein und all die anderen Despoten im Nahen Osten, in den zentralasiatischen
Republiken und Lateinamerika - installiert, unterstützt und finanziert zumeist
von der amerikanischen Regierung - eine Bedrohung für ihre eigenen Völker sind.
Im Grunde kann man mit ihnen nur umgehen, indem man die Zivilgesellschaft stärkt
und sie nicht schwächt, wie im Fall Irak. (Merkwürdigerweise bringen gerade
jene, die die Friedensbewegung als utopisch abtun, die absurdesten Gründe vor,
weshalb sie Krieg führen: um den Terrorismus auszumerzen, um Demokratie zu
bringen, um den Faschismus zu beseitigen und, besonders amüsant, um "die Welt
vom Bösen zu befreien".)
Ganz gleich, was die Propagandamaschine uns weismachen will - die größte
Bedrohung der Welt sind nicht die schäbigen Diktatoren. Die wahre Gefahr,
die allergrößte Bedrohung ist die Kraft, die die politische und ökonomische
Lokomotive der amerikanischen Regierung antreibt, die gegenwärtig von Bush
gelenkt wird. Auf ihn einzudreschen macht Spaß, weil er ein so lohnendes Ziel
ist. Gewiß, er ist ein gefährlicher, geradezu selbstmörderischer
Lokomotivführer, aber viel gefährlicher als er selbst ist die Maschine, an deren
Hebeln er sitzt.
Trotz der Düsternis, die uns zur Zeit umgibt, möchte ich vorsichtig zu
Hoffnung aufrufen. In Kriegszeiten sieht man am liebsten seinen schwächsten
Feind an der Spitze seiner Truppen. Und das ist Präsident Bush zweifellos. Jeder
andere, auch nur halbwegs intelligente amerikanische Präsident hätte vermutlich
nicht viel anders gehandelt, aber er hätte sein Vorgehen geschickt getarnt.
Vielleicht hätte er sogar die Vereinten Nationen mit auf den Weg genommen. Bushs
taktlose Dummheit und seine unverschämte Überzeugung, die Welt mit seinen
Bereitschaftspolizisten beherrschen zu können, haben das Gegenteil bewirkt. Er
hat erreicht, was Intellektuelle und Aktivisten seit Jahrzehnten versuchen. Er
hat die Schaltwege freigelegt. Er hat in aller Öffentlichkeit Aufbau und
Funktionsweise der apokalyptischen Maschinerie des amerikanischen Imperiums
vorgeführt.
Nun, da die Konstruktionszeichnung (Das Imperium - eine Anleitung für
gewöhnliche Menschen) massenhafte Verbreitung gefunden hat, könnte es sehr
viel schneller, als von den Experten prophezeit, funktionsuntüchtig gemacht
werden. Greifen wir zu den Schraubenschlüsseln.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy,
geboren 1960, gilt seit Veröffentlichung ihres Romans "Der Gott der kleinen
Dinge" als eine der wichtigsten Autorinnen des Subkontinents. Immer wieder hat
sie die Wut vieler Menschen im Atomgürtel Indien/Pakistan auf die Vereinigten
Staaten geschildert und die Taten und Qualen der Globalisierung angeprangert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.2003, Nr. 79 / Seite 48
Im Kampf gegen die reichsten, bestausgerüsteten, stärksten
Streitkräfte, die die Welt je gesehen hat, beweist der Irak spektakulären
Mut und leistet sogar Widerstand.
Der Riß zwischen Europa und Amerika wird immer tiefer, und einiges
deutet darauf hin, daß die Welt vor einer neuen Ära der Wirtschaftsboykotte
steht. Am meisten werden jedoch die Amerikaner selbst unter den Kriegsfolgen zu
leiden haben.
Während letztlich das amerikanische Volk die Rechnung für den Krieg
bezahlen muß, werden die am Wiederaufbau beteiligten Firmen unmittelbar vom
Krieg profitieren.
Die größte Bedrohung der Welt sind nicht die schäbigen Diktatoren,
sondern die Kraft, die die politische und ökonomische Lokomotive der
amerikanischen Regierung antreibt.